14. Salonnacht am 12. April 2019

ander(e)s leben

 

 

Frei zitieren möchte ich aus Theodor Fontanes „Ewigen Brunnen“:


Man wird nicht besser mit den Jahren,

wie soll es auch? Man wird bequem
und bringt, um sich die Reue zu ersparen,
alle  gemachten  Fehler in ein System.

Das gibt dann eine glatte Fläche,
man gleitet ungehindert fort,
und unser Trost und Lösungswort
wird „allgemeine Menschenschwäche“.


Aus einer solchen Situiertheit darf man schon mal aus der Haut fahren, aber gleich richtig ander(e)s leben? Jeder von uns hat ja irgendwann beschlossen, dass sein Leben ein gelungenes Leben werden soll. Dazu gehört, vom sozialen Umfeld geschätzt zu werden, beruflich erfolgreich zu sein, auch dass wir uns selber wertschätzen können und - es sollte Zukunftsvisionen geben. Speziell für Ravensburger bedeutet das, eine Fortsetzung des Rutenfests und für mich persönlich eine Zukunft (vielleicht auf dem Markt?) für die grandiosen Burli-Wecken des Bäcker Honold nach Schließung seiner Bäckerei. Wenn dazu der Molditetunnel Wirklichkeit ist und die Marienplatzgarage geöffnet, wäre für uns  Ravensburger die Zukunft fast perfekt.


Aber nehmen wir an, das Schicksal würde unser aller Leben verändern. Eine grassierende Seuche zum Beispiel oder eine europäisch, atomare Katastrophe nötigt uns über die Balkanroute Richtung  Afrika zu fliehen. Wir würden uns mit Tausenden von Flüchtlingen in einem Sammellager wieder finden. Vielleicht in der Wüste des Südsudans. Es gäbe keine andere Wahl. Dann  m ü s s t e n  wir ein anderes Leben führen. Vermutlich ohne Smartphones, müssten wir uns an Erzählungen erinnern, an Bücher, wie andere mit einer Lagersituation oder dem Leben in der Wüste umgegangen sind. Wir würden uns das Hirn zermartern, wie wir überhaupt weiterleben k ö n n e n.


Weil nichts bleibt, wie es ist, macht es Sinn, sich in andere Lebensmodelle hineinzudenken, denn wir sind unentwegt von Veränderungsprozessen umgeben. Sogar das heutige Thema unseres Abends verwandelte sich von "Traum/Vision" zu "neu denken" und endete bei "ander(e)s leben".


Seit der Zeit Fontanes, überschlagen sich die Veränderungen um uns, werden schneller und schneller, werfen immense Fragen auf. Der Zukunftspsychologe Thomas Druyen empfiehlt Veränderungen voraus zu denken, durchzuspielen, zu erproben, um die überfordernden Überraschungen des Zukünftigen zu meistern. Nach Studien über die Veränderungsfähigkeit der Deutschen, kommt er zum Ergebnis, dass die Freude zur Veränderung und Zukunftsoptimismus  - absolut  k e i n e deutschen Tugenden sind.


Woran mag das liegen? Vielleicht, weil es uns - global gesehen - in Deutschland gut geht. Wir ackern ja auch in unseren Systemen, um unseren Wohlstand zu halten. Konsum ist längst zur Norm geworden. Und doch ist unser Wohlstand fragil. Das können wir fühlen. Permanent bedrücken uns schlechte Nachrichten. Wissenschaftler sagen sogar, wir steuern auf das Ende der Menschheit zu. Die Systeme dagegen versichern uns, genauso weiter machen zu müssen und weisen auf Erfolgszahlen. Die Werbung suggeriert es ebenso. Dabei sehen und hören wir doch, wie wir belogen und betrogen werden. Wir kaufen Kindern Milch, die keine mehr ist, zahlen in Fonds, die nicht existieren, Diesel-, Subvention- , Steuerskandale, und… und…  - Gläubig übernehmen wir genau die Algorithmen, die lineare Optimierung versprechen, weil die Wirtschaft weiter brummen muss. Konsum und Wohlstand haben eine göttliche Form angenommen und lassen uns glauben.


Meine Damen und Herren, was wir brauchen, ist eine Revolution des Mentalen. Denn unsere Sicherungs-, Sozialen- Regierungs- und Arbeits-Systeme sind bereits durch fremde Systeme oder Mächte manipulierbar geworden. Kriegsführung der Vergangenheit, Landnahme und Kollonialisierung von einst - ist heute gleichzusetzen mit Datenklau, Einmischung in Wahlvorgänge und Manipulation unserer freiheitlichen Grundordnung. Es ist denkbar, dass wir bereits, wie auf einem Chip hin und her geschoben werden. Dazu passt aus der Katastrophentheoretik Friedrich Nietzsches ein Absatz. "...Es ist krank, dieses entfesselte Leben und muss geheilt werden. Es ist siech an vielem Übel und leidet…  es versteht nicht mehr, sich der Vergangenheit wie einer kräftigen Nahrung zu bedienen."


Vergangenheit... Meine Kindheit war ärmlich in einer zerbombten Großstadt. Mama arbeitete den ganzen Tag. Mein Kindermädchen hatte Männerbesuche, Staubsaugervertreter usw.. Die gaben mir 10 Pfennig, damit ich auf die Straße ging. Spielen auf der Straße hatte Mama verboten, aber in dieser kleinen Freiheit ging ich manchen Geheimnissen auf den Grund, lernte, was ich unter Aufsicht niemals gedurft hätte. Wenn ich zu spät kam, gab es Haue. Das war normal. Als das mit den Pickeln losging und dem Schwitzen, begann ich mein ICH auf eine tiefere, andere Weise wahrzunehmen. Ich begann die Wirklichkeit zu fühlen, meine Ohnmacht gegen die Strenge der Schuldirektorin, des Stiefvaters und gegen die unabänderlichen Dinge um mich, wie die Atombombe und Napalm im Vietnamkrieg. Ich wollte selber wirksam werden, mich heraus bewegen aus dem Dekadenten meiner Umgebung, dem Lähmenden, dem Starren von Ordnung, weg von sozialer Ungerechtigkeit und fand mich auf der befahrensten Kreuzung der Stadt wieder, im gemeinschaftlichen Gesellschaftsprotest beim „Sit in“. Das war ein gutes Gefühl, WIR gegen die anderen, gegen die Unbeweglichen.


So haben es viele von uns in jenen Jahren durchlebt, auch in der DDR, vor dem Fall der Mauer unsere Ostdeutschen und aktuell die Schüler in der Friday-Bewegung. Anders leben  w o l l e n  ist immer von einer plötzlichen Erkenntnis beseelt, einem Leidensdruck oder einer Vision und setzt verlernen wollen von Prägungen voraus, sowie es andrerseits die unausweichliche Dynamik eines neuen Denkens in Gang bringt, ganz gleich ob es sich um Überwindung von Krankheit handelt, um Beseitigung des Bösen, um neue Mensch-Maschinen, um Flucht  um neue Lebensmodelle oder um das Schreiben von Science Fiction Literatur. Es werden fantasiegeladene Pläne aufgestellt für einen Prozess, dessen Entwicklung unabsehbar ist, der aber in der Zukunft Wirklichkeit werden soll.


Doch das Konzept Zukunft hat sich verändert. Unsere Zukunft ist erschöpft worden. Technische Zivilisation baut nicht nur ungebremst Ressourcen ab, sondern auch unsere Sprache. Bis hin zur Sprachverrohung und der Wiederkehr einer nie erwarteten Form unserer braunen Vergangenheit, samt deren praktizierten Programmen und extremer Gewalt. Und das Alles sogar weltweit. Oder sind das bereits eingangs erwähnte Manipulationen in unsere Systeme?  Sicherheit gibt es nicht und Veränderung ist nicht gleichzusetzen mit  Verbesserung und der Mensch hat sich schon immer mit seinen Verhältnissen verändert.


In ihrem neuen Buch „Ist die Zeit aus den Fugen“ schreibt Aleida Assmann: "Weil Beobachten und Erzählen Zeit braucht, die nicht mehr zur Verfügung steht, verkümmern biografisch soziale Erfahrungen. So zurren Vergangenheit und Zukunft zu einer rasant beschleunigten Gegenwart zusammen, von der wir überfordert sind. Überfordert sind zu handeln."


Veränderungsprozesse sind ja offen, unklar und ungewiss, wie sie ausgehen werden. Das belastet Entscheidungen zum Handeln. Thomas Druyen meint, es brauche Zeit und eine herausfordernde Fähigkeit, sich über solche Hemmungen hinwegzusetzen. Dabei stärken praktische Lebenserfahrung,  aushalten und durchhalten von Widerständen die resiliente Eigenschaft des Charakters. Es sollte über Grenzen hinaus gedacht, gespielt, probiert werden und  bereits mit Kindern geübt. Denn für die rasenden Veränderungen um uns herum, mit weitreichenden Auswirkungen – ganz gleich ob Internet, Weltraummüll,  Forschungen im Genbereich -, werden Menschen gebraucht mit Veränderungskompetenz. Veränderungskompetenz würde nämlich Zukunftskompetenz bedeuten.


Der Mensch bestimme sich durch das, was er tut, sagt der Philosoph Ernst Cassierer. Das heißt, durch das, wie er sich seine gegenständliche Welt errichtet. Zivilisation und Fortschritt sind gestaltbar. Seit jeher haben Ingenieure und Forscher unsere Evolution vorangetrieben. Nicht zu vergessen, die Künstler. Wobei nicht jeder ein Leonardo da Vinci ist. Aktuell weisen wohl die Cyborg-Aktivisten über Grenzen hinaus. Ins Leben gerufen vom Avangarde-Künstler und Pianisten Neil Harbisson. Er ist der erste Mensch mit einer implantierten Antenne im Schädel. Mit ihr kann er hörbare Schwingungen empfangen, Daten von Satelliten, Telefonanrufe, Videos, oder Bilder in Klänge übersetzen. Cyborgs wollen die Sinne ihres Körpers erweitern, verbessern und zu neuen Sinnen gelangen, die wir anderen erstmal noch gar nicht erfassen können.


Meine Damen und Herren, ob wir noch reicher werden, noch sicherer, noch privilegierter und noch freier in der Welt dastehen werden, ist ungewiss. Die einzige Tatsache von universaler ethischer Bedeutung in der aktuellen Welt, ist die wachsende Einsicht, dass es so nicht weitergehen kann. Der Dichter Rainer Maria Rilke hörte im letzten Jahrhundert eine Stimme im Louvre zu sich sprechen, die bis heute um den Erdball in den allgemeinen Zeitgeist eingeflossen ist. In seinem Gedicht vom „Archäischen Apollo“ weisen die letzten Zeilen in das Feld, des Wie, Wohin und Wozu - zur elementaren, ethischen Orientierung unseres Daseins. „…denn da ist keine Stelle, die Dich nicht sieht. Du musst Dein Leben ändern.“


In allem, was wir tun oder lassen ist eine Wirkung auf die gesamte Welt. Tauchen Sie heute Abend ein in Visionen, unbekannte bereits real gewordene Realitäten und Möglichkeiten. Lassen Sie sich anregen und genießen Sie denken und weiterdenken.