selbst gerecht...

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

liebe Gäste, Salonbesitzer und Freunde,

die Welt ist ungerecht! Sogar hier im Humpisquartier. Oder ist es gerecht, dass - zum gleichen Preis - die einen auf Stühlen Platz finden, während die anderen auf dem Boden sitzen müssen?

Mag sein, der liebe Gott kennt die Seinigen und die am Boden haben die es nicht anders verdient. Doch blenden wir die Gerechtigkeit Gottes aus, dann verantwortet allein der Mensch, was gerecht und was ungerecht ist. Alle modernen Gesellschaften sind sich darüber einig, das Gerechte ist das Bessere und bedeutet Frieden. Als Begriff lässt sich das Gerechte nicht abschließend definieren, sagt der Brockhaus und dass Gerechtigkeit zu den Kardinaltugenden, wie Tapferkeit, Klugheit und Maßhaltung zählt.

Vor etwa 2340 Jahren bezog der griechische Philosoph Aristoteles das Gerechte auf den Einzelnen, wobei er ungerechter Weise die Weiblichkeit ausschloss und schrieb: "Der (!) Gerechte ist derjenige, der maßvoll genau das will, was ihm zusteht." Und auf die Gemeinschaft bezogen: "Staatliche Verfassungen, die nur das Wohl des Regierenden im Auge haben, sind allesamt verfehlt."

Sein Kollege Platon schuf in seiner „Politeia“ ein Staatsmodell mit einer Ständeordnung, in der die Entscheidungsgewalt zum Gerechten nur den Herrschenden zukommt. Vorausgesetzt, die Herrschenden sind zugleich Philosophen und verfügen über die nötige Weisheit. Jahrhunderte später meinte Jean-Jacques Rousseau: "Gerechtigkeit ist wie ein Muskel."

Gibt es für das Gerechte keinen allgemeingültigen Wahrheitsmaßstab für das Gerechte?

Nach dem 2. Weltkrieg folgten US-Forscher um Lawrence Kohlberg der Vermutung, es könnte eine moralische Grundausstattung des Menschen geben, einen angeborenen Sinn als Instinkt und fanden bestätigt, dass Kinder aus sich selbst heraus ein unverstelltes Verhältnis haben für das Gerechte und das Ungerechte.

In meiner frühen Kindheit wohnte ich mit 14 fremden Personen in einer Großstadt-Etagenwohnung. Es gab für nur eine Toilette. Rotraud aus meiner Klasse wohnte zusammen mit 820 Flüchtlingen im Bunker. Für die gab es acht Toiletten. Dass die Tochter vom Metzger drei und die vom Zahnarzt zwei Toiletten hatten und dazu noch schöne Kleider, das war einfach so, war wie es war. Ungerecht fand ich das nicht. Ungerecht war, dass meine große Schwester den übrigen letzten Keks einer Geschenk-Packung nicht durchbrach, sondern sich den ganzen Keks in den Mund schob mit der Begründung: Sie sei größer, älter und Ältere hätten immer Recht.

Auf den moralischen Instinkt schichten sich individuelle Erfahrungen, individuelle Kenntnisse von unterschiedlichen Zusammenhängen des Lebens und bilden das erweiterte persönliche Gerechtigkeitsgefühl. Damit werden Vergleiche gezogen, wird sich eingefühlt in unbekannte Sichtweisen und geurteilt. Im Sinn von Rousseau sind das Muskelübungen. Jan-Phillip Reemtsma bietet dazu Nachsicht an, ganz wörtlich und pragmatisch, ein Nachdenken in der Frage "Wie hätte ich mich verhalten?"

Um Streit zu vermeiden, wurden Regeln und Gesetze geschaffen, die Gleichheit voraussetzen. Unser Grundgesetz sagt: Vor dem Gesetz ist jeder gleich. Aber gibt es Gleichheit überhaupt?

"Gleichheit ist komplex und in Sphären einzuteilen," meint der amerikanische Sozialphilosoph Michael Walzer. „Gesellschaften sind Verteilungsgemeinschaften. Gerecht sind sie, wenn die vorhandenen sozialen Güter, wie Geld, Bildung, Liebe, Ämter oder politische Macht so verteilt werden, dass keiner soziale Vorteile gewährt bekommt, nur und allein auf der Tatsache beruhend, dass er bereits einen anderen sozialen Vorteil besitzt. Wer also viel Geld besitzt sollte nicht automatisch viel politische Macht bekommen."

Wir fühlen was gerecht ist, aber eine allgemein gültige Wahrheit dazu, gelingt nicht. Lässt sich wenigstens das Ungerechte definieren, vielleicht als Grenze zum Gerechten?

Im Fall „Dudley & Stephan“, der weltweit Justizgeschichte geschrieben hat, war 1884 im Pazifik die Segelyacht „Migionette“ gesunken. Vier Schiffsbrüchige, darunter der Kapitän hatten sich auf ein Beiboot gerettet, trieben seit 19 Tagen auf dem Meer, hatten kein Trinkwasser mehr. Kapitän Dudley entschied, wer getötet werden soll, stürzte sich auf den 17jährigen schlafenden Schiffsjungen, um sein Blut zu trinken. Die anderen folgten dem Kannibalismus. Als vier Tage später die Männer gerettet, nach England gebracht wurden, kamen sie wegen Mordes mit Todesstrafe vors Gericht. Dudley begründete seine Wahl zum Mord des Schiffsjungen damit, dass dieser nicht verheiratet war, während die drei älteren alle Familien hatten. Das Gericht sprach ihn schuldig, weil er willkürlich entschieden hatte, ohne daran zu denken, dass der Jüngste sein Leben vor sich hätte haben können und – weil die Richter dem verbrieften Gesetz verpflichtet sind.

"Die Willkür - ohne ausreichende Rechtfertigung - ist politische oder soziale Herrschaft", sagt der Philosoph Rainer Forst in einem Interview.  Die gerechte Grundstruktur einer Gesellschaft ist die, in der die Betroffenen selbst als Freie und Gleiche die Macht haben, zu bestimmen, was für alle gerechtfertigt gelten kann. Dabei geht es nicht darum, wer welche Chancen in der Gesellschaft hat, sondern, wer darüber bestimmt, wer welche Chancen hat. Es gibt keine gerechte Teilhabe ohne gerechte Teilnahme.

Im Fall Dudley hatte sein Anwalt die späte Begnadigung erkämpft. Anwälte verpflichten sich dem Schützling, dürfen anders gewichtige Sichtweisen auf die Anklage einbringen.

Vor dem Hintergrund politischer, ethischer, kultureller und religiöser Differenzen ist der Streit um das „richtige“ Verständnis von dem, was gerecht ist, tödlich. Die Idee des Gerechten aber ist eine lebendige Größe. Ist eine lebendige Größe in unseren Beziehungen und stellt an uns den Anspruch, das Schicksal auszugleichen, - soweit es in unserer Macht steht und gerechterweise von uns verantwortet wird. Das muss überprüft werden. Immer wieder neu.

Gerechter Terror kann geboten sein, kann hierzulande anfangen, Ressourcen und Chancen umzuschichten. Wer Würde für eine Person oder Achtung in einer Familie durchsetzen will, wer ein gerechteres Land schaffen will, wer Krisen und Kriege weltweit eindämmen will, muss sich entscheiden und selbst aus Überzeugung, aus dem Gefühl heraus für das Gerechte eintreten.

Auch wenn in der Praxis oft nur kleine Schritte zur Gerechtigkeit möglich sind, so darf doch nicht im Denken das Gerechte seiner Radikalität beraubt werden. – Die letzte Instanz ist das eigene Herz.

Lassen Sie sich in diesem Sinn anregen von der kleinen Auswahl dieses großen Themas zu Gesprächen, die Sie nach 22 Uhr hier mit uns und den Autoren fortsetzen und die sie nach Hause begleiten sollen. Ich wünsche Ihnen einen geistreichen Abend. Vielen Dank.