da|zwischen


Meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Gäste, Salonbesitzer und Freunde,

Schön, dass Sie dasitzen. Und so entspannt! Jedenfalls wirken Sie so. Gab es keine Überraschung heute? Nichts Unvorhergesehenes? Kleiner Sturz vielleicht? Oder ein Flirt, der Sie aus den Schuhen gehoben und hier hat hineinschweben lassen? Nichts? - Gut, dass Ihnen nichts dazwischen gekommen ist, sonst säßen Sie nicht hier. Auch uns ist diesmal kein Vulkan dazwischen gekommen wie 2010, als der Eyjafjallajökull ausbrach und wegen der Aschewolken unser Autor Rainer Erlinger nicht zum Blauen Sessel fliegen konnte. Wir sind alle da.

Wir sind das Da - zwischen dem gesamte Universum, welches ein paar Quadrillionen mal größer ist als wir und der Mikrowelt der Elementarteilchen, die ein paar Quadrillionen mal kleiner ist. Wir sind das Da – zwischen den Augen der Kameras in der Überwachung von Satelitten, das Da als Objekt, das Da als Verortung, als Person zwischen Personen, das Da als Zeit. Jeder von uns ist ein Teilchen irgendwo auf irgendeiner Strecke flitzend,  zeitweise eingeklemmt, gefangen oder in Gefahr zermalmt zu werden.

Von der Geburt bis zum Tod reisen wir durch vielfältige Spannungsfelder. Wir werden hin- und hergeworfen zwischen Beziehungskrisen, Heimatverbundenheit oder Heimatsuche, zwischen unserer eigenen Geschichte und der unseres Umfeldes, zwischen Kultur und Religionen. Schielend nach Anerkennung kauern wir zwischen den Stühlen von Abhängigkeiten, drohen zu zerreißen beim Spagat zwischen Einbildung und Argumentation.

Kein Wunder also: Wer im Durcheinander von Spannungsfeldern herumstrampelt oder eingeklemmt ist, beginnt zu unterscheiden, zu trennen nach rechts oder links, schwarz oder weiß und entfaltet das Bedürfnis, Stellung zu beziehen, Sicherheit zu finden, einen festen Halt - einen Felsen unter den Füßen zu finden. Zwischen Entweder - Oder begeben wir uns auf die Suche nach dem wahrhaft richtigen Tun und würden sogar das scheinbar Unmögliche wagen.

Aber was ist das Richtige? Ist Aktionismus angesagt? Gelassenheit? Oder Fatalismus, alles irgendwie geschehen lassen, weil wir ohnmächtig sind gegenüber dem Geschehen um uns. Ist es möglich, das gute, alte Gottvertrauen unserer Großmütter hervor zu zaubern oder „amor fati“ zu vertrauen, der Liebe zum Schicksal? Dazwischen liegt die Wahrheit.

Viele unserer Großeltern, lebten im Gottvertrauen: „Der Herr wird’s schon richten.“ Oder wie die Kölner sagen: „Es küt wies küt.“ Voll Vertrauen in der Welt voran zu kommen, wie kleine Kinder unbefangen durch die Zeit getragen zu werden, voller Hingabe an den Augenblick, scheint eine erstrebenswerte Lebensform zu sein. Oder im Zen-Buddhismus einen Schritt vor den anderen zu legen. In großer Gelassenheit, ihn wirklich zu gehen, Fuß abrollend, Schritt für Schritt, Minute für Minute, wobei das Ziel unwichtig ist, nur die Gegenwart ist es. Wer sich voll Vertrauen immer von der Gegenwart getragen fühlt, von Gott vielleicht, der eigenen oder einer fremden Macht, der sein Schicksal gelassen nehmen kann, - ist so jemand dann überhaupt noch irgendwo dazwischen? Er ist eins mit sich, würden die Psychologen vielleicht sagen.

Wären alle Individuen ganz bei sich, würde dazwischen dann noch Spannung sein, Sehnsucht,  Zwiespalt? Jeder von uns lebt in mehreren sozialen Gemeinschaften, Familie, Freunde, Arbeit, Vereine. Jede dieser Gemeinschaften hat unterschiedliche Regeln und fordert etwas von uns. Das soziale Umfeld verstrickt uns in Abhängigkeiten, die Spannung aufbaut. Spannung zur Sozialgemeinschaft, wie auch zu uns selbst.

"Lassen wir uns von den vielen Forderungen, die uns unsere Abhängigkeiten aufbürden nicht in die Unmündigkeit verschulden", rät die Moralphilosophin Susan Neimon und fordert zu bewusstem Handeln auf. Nehmen wir uns die Freiheit, etwas vom Leben zu verlangen. Reife bedeutet: das Leben in seiner Wirklichkeit zu ergreifen und glücken zu lassen.

Naja, aber im Leben kommt meistens irgendwas dazwischen. Wir werden überrascht, etwas Unberechenbares geschieht oder Gefahr ist im Anzug. Darauf möchte ich kurz eingehen, bevor ich zum Ende komme.

Dazwischen heißt, vom Leben überrascht zu werden . In „Vollendung der Liebe“ beschreibt Robert Musil die schicksalhafte Begegnung einer schönen Ehefrau, die allein unterwegs, voll liebevoller Gedanken an ihrem Mann - im Zug eingeschneit wird. Ihr gegenüber sitzt ein Mann. Ein ungehobelter Mann, mit dem sie später in einem Berggasthof landet. "In der Nacht, da war sie aufgewacht wie von Schellengeklingel…" - so steigen wir ein in die Gedankenwelt dieser Frau und erfahren, wie sich ihre erotische Sehnsucht entwickelt: "…dass es eine regenleise, wie ein Himmel eine Landschaft überspannende Lust sein müsste, untreu zu sein, eine geheimnisvoll, das Leben schließende Lust … "

Die Geschichte spielt in einer Zeit, in der bereits die Sehnsucht nach Untreue zur Sünde erklärt wurde. Jedenfalls in der katholischen Kirche, hinter deren Beichtgittern sich dann die Herren in der Soutane am Geflüster ergötzt haben mögen. Der Begriff von Sünde gehört zu den frühkindlichen Prägungen, die dem Gehorsam zwischen Kindern und Erwachsenen und deren jeweiliger Moral verpflichtet sind. "Der Gehorsam ist aufs Tiefste in dem Prozess verwurzelt, der zur Entfremdung des Eigenen führt", schreibt der Psychoanalytiker Arno Gruen. Man kann also zwischen sich und dem eignen Wollen stehen. Die Steigerung zur Gehorsamkeit kann im schlimmsten Fall dazu führen, hilflos zu bleiben, sich zum eigenen Wollen hin zu entwickeln. Die Schriftstellerin Ulla Hahn rät dazu, "den Ballast der Vergangenheit in Proviant zu verwandeln." Die Frau in Musils Geschichte verwandelt ihren Ballast in Proviant und gelangt zur Vollendung ihrer Liebe, ohne die Untreue zu vollziehen.

Dazwischen ist unberechenbar. Plötzlich bricht über eine Familie das Schicksal herein. Einer wird krank, schwebt zwischen Leben und Tod. Die Familie fleht: „Bitte tun Sie etwas, nichts soll unversucht bleiben.“ Unser Sozial- und Krankenversicherungssystem verspricht: "Einer für alle, alle für Einen" und verpflichtet gleichzeitig die Mediziner, die Kosten gering zu halten. Dabei wird das Gewissen der Ärzte geradezu aufgerieben. Wie weit sind alle Möglichkeiten der modernen Medizin für alte Menschen und Schwerstkranken auszuschöpfen oder werden die Betroffenen genötigt, ihr Schicksal zu lieben? Ist unsere soziale Gemeinschaft noch human oder beginnt sie zynisch zu werden?

Dazwischen ist voll Gefahr. Angesichts des Terrors, der jetzt auch in der Mitte Europas stattfindet, wächst die Angst. Seit Angela Merkels „Wir-schaffen-das!“ fühlen sich viele Bürger zwischen Argumenten und Gegenargumenten hin und her geworfen. Zwischen den aktuellen Polen der Debatte um Zuzug und Aufnahmebedingungen der Migranten verläuft eine Spaltung. Nicht nur durch das Land, sondern auch quer durch Familien, Arbeits- und Freundeskreise. Während in der Realität die Zwiespältigkeit bis zum Abwinken hin diskutiert wird, wachsen in den virtuellen Räumen, wie face-book unvorstellbare Hasstiraden. "Mit Lügen werden Stellungnahmen untermauert, die an die Hexenverfolgung im Mittelalter denken lassen", schreibt Giovanni di Lorenzo in der ZEIT.

Wie ist dieser gefährlichen Verkommenheit von Wirklichkeit entgegenzuwirken? Hier möchte ich noch einmal Susan Neimon zitieren: "Wir dürfen uns nicht in die Unmündigkeit verschulden lassen." Im Wirrwar aller persönlichen, aller rassischen, kulturellen, religiösen und finanziellen Unterschiede dürfen ethische Grundsätze nicht verloren gehen.

Dazwischen müssen humane Absichten wachsen. Sie müssen in den Mittelpunkt gestellt werden. Humane Absichten sind der sichere Felsen, der Land dazu gewinnen muss, indem wir nicht müde werden, immer wieder zu suchen, herauszufinden und herauszustellen, was uns als Menschen auf diesem Planeten verbindet. Nicht, was uns unterscheidet. Denn wegen der Unterscheidungen sind wir schon einmal aus dem Paradies vertrieben worden.

In diesem Sinn wünsche ich Ihnen im Dazwischen des heutigen Abends etwas Aktionismus, mehr aber noch Gelassenheit und eine vergnügliche Zeit.